Düsseldorf, 23. November 2011
Die Energierechtsexperten der internationalen Anwaltssozietät Clifford Chance halten den Gesetzgebungsentwurf zum Xgen erneut für rechtswidrig.
Im Rahmen der Einführung der Anreizregulierung zum 1. Januar 2009 hatte der Verordnungsgeber in § 9 der Anreizregulierungsverordnung (ARegV) den sogenannten generellen sektoralen Produktivitätsfaktor (Xgen) normiert. Dieser Xgen sollte aus der Abweichung des netzwirtschaftlichen vom gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt sowie der Abweichung der gesamtwirtschaftlichen von der netzwirtschaftlichen Einstandspreisentwicklung ermittelt werden. Hintergrund ist, dass nach dem Willen des Verordnungsgebers in monopolistisch strukturierten Wirtschaftsbereichen wie dem Netzbetrieb bei der Simulation von Wettbewerb durch Anreizregulierung höhere Produktivitätssteigerungen realisiert werden sollen als in wettbewerblich organisierten Märkten. Die hieraus resultierenden Vorteile sollen an die Netznutzer weitergegeben werden.
In seinen Beschlüssen vom 28. Juni 2011 (EnVR 48/10 und EnVR 34/10) hat der BGH in zwei von Clifford Chance betreuten Gerichtsverfahren die Berücksichtigung des Xgen in der Ausgestaltung durch den Verordnungsgeber für unzulässig erklärt. In seinen Entscheidungen hebt der BGH hervor, dass die Ermächtigungsgrundlage des § 21a Abs. 6 S. 2 Nr. 5 EnWG die Berücksichtigung eines generellen gesamtwirtschaftlichen oder netzwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritts im Verordnungswege nicht umfasse.
Als Reaktion auf die BGH-Entscheidung haben die Fraktionen CDU/CSU und FDP nun einen "Reparaturversuch" der Regelung zum Xgen unternommen. Dazu legten sie dem Deutschen Bundestag
am 8. November 2011 (Drs. 17/7632 vom 08.11.2011) einen "Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften" vor, in dessen Artikel 1 Änderungen des § 21a EnWG und in Artikel 2 Änderungen des § 9 ARegV enthalten sind. Der Gesetzesentwurf soll am 30. November 2011 im Wirtschaftsausschuss behandelt und nach der 2. und 3. Lesung im Bundestag, die für den 01.12.2011 angesetzt sind, am 16. Dezember 2011 dem Bundesrat vorgelegt werden. Diese Eile ist offenbar dem Umstand geschuldet, dass die Bundesregierung wohl möglichst schnell eine Rechtsgrundlage für den Xgen schaffen will, wurde ihr doch in den Medien erst kürzlich verschiedentlich ein "Versäumnis" (so RP online vom 18.10.2011) oder gar ein "klägliches Versagen der Aufsicht" (so die Frankfurter Rundschau vom 16.10.2011) vorgeworfen. Leider ist der jetzt offensichtlich in großer Hektik zustande gekommene "Reparaturversuch" in der Sache erneut rechtswidrig.
Unzulässiger Ansatz des PF4 in 2012 und PF5 in 2013
§ 9 Abs. 5 ARegV-E sieht vor, dass die Einbeziehung des generellen sektoralen Produktivitätsfaktors in die Erlösobergrenzen durch Potenzierung des vom Verordnungsgeber oder den Regulierungsbehörden festgesetzten Wertes mit dem jeweiligen Jahr der Regulierungsperiode erfolgt. Diese Regelung ist unzulässig.
Nach dem Verordnungswortlaut ist der im vierten Kalenderjahr der ersten Regulierungsperiode anzusetzende Produktivitätsfaktor mit 4 zu potenzieren. Demnach sind für den Produktivitätsfaktor ab dem Jahr 2012 nicht erstmalig 1,25 %, sondern 5,094534 % in Ansatz zu bringen. Hierdurch werden die Netzbetreiber so gestellt, als hätte es die verordnungsrechtliche Verpflichtung zur Erreichung von Produktivitätssteigerungen schon seit dem ersten Kalenderjahr der ersten Regulierungsperiode (2009-2011) gegeben. Darin liegt eine Rückwirkung, die verfassungsrechtlich höchst bedenklich ist, da sie das durch Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen des Bürgers darauf, dass die Produktivitätsvorgabe – da auch höchstrichterlich für rechtswidrig erklärt – wenn überhaupt erst in der Zukunft eingeführt wird, verletzt. Die Regelung wäre mit dem Blick auf den Vertrauensschutz auch deshalb unzulässig, weil sie zu einer nachträglichen Verschlechterung der Rechtslage führen würde.
Abgesehen von Vertrauensschutzgesichtspunkten wäre ein Ansatz des Werts von 5,094534 % im Kalenderjahr 2012 und mit 6,408215 % im Kalenderjahr 2013 auch unverhältnismäßig. Denn die beeinflussbaren Kostenanteile mussten aufgrund der individuellen Effizienzvorgabe bereits vor Beginn des vierten Kalenderjahres schon zu 3/5 abgeschmolzen werden. Unter Berücksichtigung des abgeschmolzenen Kostenblocks stellt sich ein potenzierter Ansatz des Produktivitätsfaktors im Jahr 2012 als unverhältnismäßige Kostensenkungsverpflichtung dar. Denn den Netzbetreibern wird im Kalenderjahr 2012 die Pflicht auferlegt, nicht erstmals die generelle sektorale Effizienzvorgabe des Kalenderjahres 2012 zu erfüllen, sondern an die sich aus dem neuen Produktivitätsfaktor ergebenden generellen Effizienzvorgaben für die bereits vergangenen 3 Kalenderjahre anzuknüpfen. Eine solche Vorgabe ist den Netzbetreibern bei einem bereits abgeschmolzenen Kostenblock nicht zumutbar. Sie verstößt nicht zuletzt gegen die gesetzliche Vorgabe, dass die Effizienzvorgaben so gestaltet und verteilt sein müssen, dass der betroffene Netzbetreiber die Vorgaben erreichen und sogar übertreffen kann (§ 21a Abs. 5 Satz 4 EnWG).
Generelle Unzulässigkeit einer Potenzierung
Ungeachtet dessen erscheint eine Potenzierung, wie in § 9 Abs. 5 ARegV-E vorgesehen, generell unzulässig, weil diese unverhältnismäßig ist. Dies folgt zunächst daraus, dass schon in der geltenden ARegV eine Kumulation lediglich in der Legende zu der in der Anlage zu § 7 ARegV enthaltenen Anreizregulierungsformel angelegt und nicht im Verordnungstext selbst angeordnet ist. Überdies ist folgender Aspekt entscheidend: Hält man sich vor Augen, dass ab der zweiten Regulierungsperiode z.B. vor Beginn des 5. Kalenderjahres einer Regulierungsperiode die beeinflussbaren Kostenanteile nur noch 1/5 betragen dürfen und im 5. Kalenderjahr vollständig abzubauen sind, wird deutlich, dass sich ein mit dem Wert 5 potenzierter Produktivitätsfaktor zumindest zum größten Teil auf die vorübergehend nicht beeinflussbaren Kostenanteile auswirkt. Dies ist nicht nur unverhältnismäßig; eine Effizienzvorgabe auf unbeeinflussbare Kostenanteile ist darüber hinaus schon von Gesetzes wegen unzulässig (§ 21a Abs. 4 Satz 6 EnWG). Nicht zuletzt wegen der gesetzlichen Vorgabe, dass Effizienzvorgaben nur auf beeinflussbare Kostenanteile bezogen werden dürfen, hat der BGH in seinen beiden Grundsatzentscheidungen vom 28. Juni 2011 die bisher geltenden verordnungsrechtlichen Vorgaben zum Produktivitätsfaktor als unzulässig bewertet. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, dass der BGH in seinen Grundsatzentscheidungen zur ARegV die von den Netzbetreibern geforderte Kumulation des PIZ für unzulässig erklärt hat; es bestehen insoweit also hohe Hürden.
Eine Regelung zum Ansatz eines Produktivitätsfaktors erscheint daher allenfalls in der Form zulässig, dass in jedem Kalenderjahr einer Regulierungsperiode der Wert des für die Regulierungsperiode geltenden Produktivitätsfaktors in Ansatz zu bringen ist.
Unzulässiger Ansatz eines pauschalen Wertes
Der Verordnungsentwurf ist auch wegen des pauschalen Ansatzes des Produktivitätsfaktors rechtlich nicht zulässig. Danach soll der Produktivitätsfaktor pauschal für die erste Regulierungsperiode 1,25 % und für die zweite Regulierungsperiode 1,5 % betragen. Hierbei übernimmt der Verordnungsentwurf die pauschalen Werte wie sie bisher schon in der Verordnung enthalten waren. Anders als nach der bisherigen Verordnung, wonach der Xgen aus der Abweichung zwischen netzwirtschaftlichem und gesamtwirtschaftlichem Produktivitätsfortschritt einerseits sowie der Abweichung zwischen gesamtwirtschaftlicher und netzwirtschaftlicher Einstandspreisentwicklung andererseits ermittelt werden sollte (§ 9 Abs. 1 ARegV), sieht der neue Entwurf vor, die Berechnung des Xgen nunmehr ohne die Korrektur um den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt vorzunehmen. Dies ist insofern unzulässig, als es gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz verstößt, wonach niemand zu objektiv unmöglichen Leistungen verpflichtet ist. Denn damit wird den Netzbetreibern eine Produktivitätssteigerung auferlegt, die faktisch nicht erreichbar ist, da diese zusätzlich auch noch den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt umsetzen müssen. Dies steht aber nicht im Einklang mit dem Gesamtsystem der Anreizregulierung, da der gesamtwirtschaftliche Produktivitätsfortschritt bereits durch den Ansatz des Verbraucherpreisgesamtindex (VPI) in der Erlösobergrenze berücksichtigt wird (§ 8 ARegV). Nicht berücksichtigt wird auch die lange Kapitalbindungsdauer, die durch die regulatorisch vorgegebenen Abschreibungsdauern mit bedingt ist (vgl. Anlage 1 zur Strom- bzw. GasNEV). Die Einführung dieser zusätzlichen Produktivitätsvorgabe bedeutet zudem auch ein Verstoß gegen das der Anreizregulierung immanenten Erreichbarkeits- und Übertreffbarkeitsgebot, wonach die Vorgaben zur unternehmensindividuellen Effizienzsteigerung so gestaltet werden müssen, dass der Netzbetreiber sie erreichen und gar übertreffen kann (vgl. § 21a Abs. 5 Satz 4 EnWG). Nichts anderes kann für die Vorgabe einer allgemeinen sektorspezifischen Produktivitätssteigerung gelten. Die mit dem Xgen verbundene Vorgabe zur beachtlichen Absenkung der zulässigen Erlöse, potenziert über die Dauer der Regulierungsperiode, bedeutet somit auch einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG, der nicht gerechtfertigt ist.
Der Ansatz eines pauschalen Wertes ist insofern auch rechtlich nicht haltbar, als er die Ergebnisse neuerer wissenschaftlicher Studien unberücksichtigt lässt, in denen erstmals zur Berechnung des Xgen nicht auf die Produktivitätssteigerung in der Gesamtenergiewirtschaft, sondern wie gesetzlich gefordert auf netzwirtschaftliche Daten zurückgegriffen wurde, wie etwa die Untersuchungen von Proettel, Th., Streb, J., Streb, S. aus dem Jahre 2009 zur Produktivitätsentwicklung in der deutschen Stromwirtschaft in langfristiger Perspektive (veröffentlicht in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 10, S.309-332). Diese kommen zu dem Ergebnis, dass der Netzbetrieb, anders als die Energiewirtschaft, geringere Produktivitätsfortschritte aufweist.
Falschberechnung im Rahmen der Potenzierung
Neben den erheblichen rechtlichen Bedenken, die allgemein gegen die Potenzierung sprechen, ist auch die konkrete Umsetzung der Potenzierung nicht zutreffend. So berücksichtigt das in der Begründung des Gesetzesentwurfs vorgegebene Berechnungsbeispiel nicht, dass der Produktivitätsfaktor der Verringerung der zulässigen Erlöse dient, demnach mathematisch korrekt eine negative Wachstumsrate zu berechnen ist. Zudem kommt die Formel so nicht zu dem vom Verordnungsgeber selbst vorgegebenen Ergebnis, wonach der Produktivitätsfaktors jährlich 1,25 % beträgt (§ 9 Abs. 2 ARegVE). Dies war von den Netzbetreibern bereits in der Vergangenheit schon gerichtlich angegriffen worden; der BGH hat den Xgen in seiner bisherigen Ausgestaltung aber bereits aus anderen Gründen als unzulässig verworfen, so dass über diese Frage nicht mehr entschieden werden musste.
Fazit
Der "Reparaturversuch" der Regierungskoalition zur Rettung des Xgen ist rechtswidrig. Denn indem für die Berechnung des Produktivitätsfaktors für das Jahr 2012 ein Wert von 5,094534 % angesetzt wird, wird der Netzbetreiber im Ergebnis so gestellt, als hätte es den vom BGH für verfassungswidrig erklärten Xgen in den Jahren 2009 bis 2011 schon gegeben. Die Berücksichtigung eines Xgen bei der Festlegung der Erlösobergrenzen durch den Ansatz eines pauschalen Werts ist dabei generell unzulässig, weil die Netzbetreiber die Vorgabe schlicht nicht erreichen können. Die Regelung verstößt daher gegen das der Anreizregulierung immanente Erreichbarkeitsund Übertreffbarkeitsgebot und ist auch aus diesem Grunde unverhältnismäßig. Dies ist auch insofern höchst bedenklich, als es sich bei der Einführung des Xgen um eine beträchtliche Absenkung der zulässigen Erlöse und damit um einen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Freiheit der Berufsausübung handelt. Dies wiegt umso schwerer, als mit der Beibehaltung des pauschalen Ansatzes aktuelle wissenschaftliche Studien zum Produktivitätsfortschritt in der Netzwirtschaft missachtet werden. Zudem ist die Regelung angesichts der klaren Aussage des BGH, der eine Rechtsgrundlage für den Xgen in seiner derzeitigen Ausgestaltung in § 9 ARegV verneint hat, nicht haltbar, da sie gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstößt. Nicht zuletzt wäre eine Potenzierung ungeachtet ihrer konkreten Ausgestaltung indes ohnehin rechtswidrig, weil diese letztlich dazu führt, dass sich Effizienzvorgaben auf unbeeinflussbare Kosten beziehen können. Dies ist ausweislich des EnWG unzulässig. "Der Gesetzgeber täte vor diesem Hintergrund gut daran, von der geplanten Neuregelung in dieser Form Abstand zu nehmen", sagt Dr. Peter Rosin, Leiter des Energierechtsbereichs von Clifford Chance.
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